Am Anfang war der ātman allein in menschlicher Gestalt. Als er um sich blickte, sah er nichts anderes als sich selbst. Da sprach er am Anfang: „Ich bin!“ Daher kommt der Name „Ich“. Deshalb sagt man auch heute noch, wenn man angesprochen wird, zuerst: „Ich bin es“, und danach erst nennt man seinen Namen, wie immer er lautet. … (1)

Er fürchtete sich. Deshalb fürchtet man sich, wenn man allein ist. Dann dachte er sich: Da es nichts außer mir gibt, wovor sollte ich mich fürchten? Darauf wich seine Furcht, denn vor wem hätte er sich fürchten sollen? Denn Furcht kommt von einem anderen. (2) 

Brihadāranyaka I, 4,1-2

Vielleicht stellt sich jeder einmal die Frage „Wer bin ich?“ oder „Wer oder was ist eigentlich ICH?“ Wer sich mit sich selbst konfrontiert sieht, wird vielleicht feststellen, dass sich gelegentlich unangenehme Gefühle oder gar Angst bemerkbar machen. Wer aber beschließt, sich bewusst mit sich selbst zu beschäftigen, hinschaut was in ihm und um ihn herum gerade passiert und erkennt was das ICH gerade braucht, dem bietet diese Konfrontation mit sich selbst die Möglichkeit zur Transformation.

Meine erste bewusste Begegnung mit meinem ICH hatte ich nach einem Treffen unserer damaligen Selbsterfahrungsgruppe. Aus irgendeinem Zusammenhang heraus kam auch hier die Frage nach dem ICH und der Angst auf. Die damalige Leiterin hat uns empfohlen, einmal einen Selbstversuch zu machen. Jede/r konnte sich, wenn sie/er wollte, zuhause in einer ruhigen Minute vor einen Spiegel setzen und sich selbst tief in die Augen blicken, um zu sehen, wie lange sie/er Ihrem/seinem eigenen Blick (in die Seele) standhält. Seinem wahren Selbst zu begegnen braucht Mut. So simpel diese Übung auch erscheint, es hat mich einiges an Überwindung gekostet, nicht wegzusehen. Sicherlich gewährt einem der Blick in den Spiegel auch nicht die letztendliche und vollständige Erkenntnis über sein wahres ICH, aber es ist eine interessante Erfahrung und einen Versuch wert.

Aber warum hat man nun so viel Angst vor dem wahren Selbst (ātman), wenn es doch nur das ICH BIN gibt? Wie ātman in menschlicher Gestalt sagt, gibt es doch keinen Grund, wenn man all-ein(s) ist. Warum ist es dann so schwierig, bei sich zu bleiben und sich nicht von außen beeinflussen zu lassen. Vielleicht waren wir in unserem Ursprung alle All-EINS und ganz bei uns selbst. Vielleicht hat sich dieser Zustand im Laufe der Evolution über die Zeitalter hinweg verändert oder aufgelöst. Aber irgendwo muss dieser Funke noch vorhanden sein, denn durch Yoga und Meditation ist dieser Zustand der wahren Erkenntnis und des wahren Seins (zumindest für eine gewisse Zeit) zu erreichen. Folglich kann er sich nicht ganz aufgelöst haben. Vielleicht ist das Getrennt-Sein vom ICH auch nur eine Illusion und es fehlt uns wirklich „einfach“ der Mut unser wahres ICH zu erkennen. Aber vielleicht ist auch das nur eine Illusion.

Siegmund Freud beschreibt in seinem „Drei-Instanzen-Modell“ die Begriffe „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“. Während das „Es“ nach der Befriedigung seiner Triebe (Nahrungs- und Sexualtrieb,…), Bedürfnisse (Geltungsbedürfnis,…) undAffekte (Liebe, Vertrauen, Hass, Neid,…) strebt und im „Über-Ich“ die psychische Struktur bezeichnet wird, in der soziale Normen, Werte, Moral, Gewissen, usw. angesiedelt sind, ist das „Ich“ jene Instanz, die dem bewussten Alltagsdenken (Selbstbewusstsein) entspricht und zwischen den Ansprüchen des „Es“ und dem „Über-Ich“ vermittelt, um psychische und soziale Konflikte aufzulösen. Ist das ICH also wirklich nur ein Vermittler zwischen angeborenen Trieben und anerzogenen Moralvorstellungen?

Ich weiß nicht, wie oft ich in diesem Text das Wort ICH verwendet habe, aber man gebraucht es im Alltag so oft, ohne sich bewusst zu machen, was es bedeutet und was ICH eigentlich ausmacht. Ich werde die Frage nach dem ICH und der Angst auch nicht beantworten können. Wenn wir jedoch ganz bei uns sind, sind wir der Beobachter der Geschehnisse. Wir können von „außen“ betrachten was in uns und um uns herum geschieht, ohne etwas fürchten zu müssen. Aber nichts ist schwieriger als diese Position einzunehmen und zu halten.

In dem Prosagedicht „Die Einladung“ (siehe Buchempfehlungen) schreibt Oriah Mountain Dreamer: „ (…) Es interessiert mich nicht, wo oder was oder mit wem du studiert hast. Ich will wissen, was dich von innen heraus trägt, wenn alles andere wegbricht. Ich will wissen, ob du mit dir selbst allein sein kannst und ob du den, der dir in solch einsamen Momenten deines Lebens Gesellschaft leistet, wirklich magst.“ (2)
Diese Instanz, die uns von innen heraus trägt, die uns mit uns selbst allein sein lässt, ohne uns vor uns selbst zu fürchten, der Zustand des All-Eins-Seins, in dem sich alles materielle auflöst und keine Dualität mehr existiert, das ist Ātman, das wahre Selbst.

Ko´ham? Wer bin ich?
So´ham! Ich bin (wer ich bin)! Er (ātman) ist ich!

Vielleicht möchtest Du die Gelegenheit nutzen um in den Spiegel zu schauen und Dir selbst begegnen, Deinem wahren Selbst, dem höchsten Bewusstsein, dem ICH BIN. 

In meiner „Mediathek“ findet Du zum Thema vier Videos des ehemaligen DAX-Managers Bernd Kolb, der sich heute mit Weisheitsfragen beschäftigt. Nachdem sein Buch „Atman“ sehr erfolgreich war, gab es 2016 die Atman-Ausstellung. Hier blickt der Betrachter nicht in sein eigenes Spiegelbild um sich selbst zu erkennen, sondern in die Gesichter anderer Menschen auf einer durchleuchteten Leinwand. In diesem Jahr folgte dann die Brahman-Austellung. In den vedischen Schriften bezieht sich Atman auf das individuelle Bewusstsein und Brahman auf das universelle Bewusstsein oder Weltenseele.

Unter folgendem Link findest Du Bernd Kolb´s Bericht über seine „Wisdom Journey“.
http://www.berndkolb.com/wisdom/

In den Buchempfehlungen findest Du zum Thema das Buch „Weiter als Himmel, größer als Raum“ von Mooji, das  sich mit dem Advaita Vedanta (Nicht-Dualität) beschäftigt.

Lass Dich inspirieren und sei gut zu Dir!

1) Bettina Bäumer, Upanishaden, Kösel Verlag, 2. Auflage 2009, Seite 150
2) Oriah Mountain Dreamer, Die Einladung, Goldmann Verlag, 8. Auflage 2000, Seite 8

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