Im letzten Beitrag habe ich schon erwähnt, dass durch die Medien und auch durch einige Studios suggeriert wird, dass man z. B. den „Kopfstand“ (auch „König der āsanas“ genannt) oder die „Krähe“ beherrschen muss um „richtigen“ Yoga zu praktizieren. Hier wird ein Bild vermittelt, das mit Yoga nichts zu tun hat! Yoga ist weit mehr als āsana (Körperhaltungen). Vor einiger Zeit ist in den USA, aber auch in vielen anderen Ländern, eine Diskussion darüber entbrannt, ob der Kopfstand noch unterrichtet werden sollte oder nicht. Viele Yogaschulen haben sich mittlerweile entschlossen es nicht mehr zu tun. Auch viele Yogalehrer verzichten in der eigenen Yogapraxis auf das Üben des Kopfstandes.

Als die ersten Schriften über Yoga niedergeschrieben wurden, fanden Körperübungen noch keine Erwähnung. Die einzige Haltung, die zu dieser Zeit eingenommen wurde, war der Lotossitz, in dem sich der Yogi zur Meditation einfand. Die Körperübungen sind erst sehr viel später entstanden und dienten der Vorbereitung auf das Sitzen in der Meditation.
Und so setzt sich auch heute noch eine klassische Yogapraxis zusammen. Zunächst wird (angepasst) mit dem Körper geübt (āsana), dann folgt das Üben der Atemtechniken (prāṇāyāma) und im Anschluss die Meditation (dhyāna).

Die Menschen, die sich im Yoga-Kurs einfinden, suchen in der Regel einen Ausgleich zum Alltag. Den meisten Teilnehmern liegt es fern, sich auf der Matte verrenken zu wollen und sich unter Umständen, wider ihrer körperlichen Konstitution, in Haltungen zu begeben, die im schlimmsten Fall zu körperlichen Schädigungen führen können. Wenn wir Schwierigkeiten in der Halswirbelsäule haben, sowieso im Nacken-Schulter-Bereich verspannt sind, wäre es mehr als bedenklich den Kopfstand zu üben. Unsere Halswirbelsäule ist so filigran, dass das Risiko eines Bandscheibenvorfalls erheblich steigt, denn sie trägt hier, unterstützt durch Unterarme und Schultern, das gesamte Gewicht unseres Körpers. Ebenso verhält es sich beim üben der Krähe. Hier tragen unsere Handgelenke unser gesamtes Körpergewicht. Wer schwache Handgelenke hat, wird sich mit dem Ausführen dieser Übung keinen Gefallen tun.

Wir sollten uns immer wieder fragen, welchen Nutzen eine Haltung für uns hat und wo sie uns hinführt. Welchen Nutzen bringt uns also der Kopfstand? Das schnellere Aufsteigen der kuṇḍalinī (Schlangenkraft)? Das Anfachen von agni ((Verdauungs)-Feuer), das unsere Schlacke verbrennt? Das leichtere Setzen von bandhas (Verschlüsse)? Ja, möglich. Faltenreduktion und weniger graue Haare? Eher unwahrscheinlich. Eine bessere Durchblutung unseres Gehirns? Sehr kontraproduktiv bei Menschen mit Bluthochdruck, erhöhtem Augeninnendruck etc. Es gibt schonendere Haltungen, die uns den gleichen Effekt bringen. Kopfstand und Krähe sind nur zwei Beispiele für eine Reihe von kritischen Haltungen im Yoga. Das heißt nicht, dass wir auf alle komplexen Übungen verzichten müssen. Auch in einer „einfachen“ Vorbeuge kann uns die „Hexe schießen“. Dennoch sollten wir alle Haltungen so üben, dass es ohne Probleme möglich ist, sie stabil und leicht (sthira sukha) auszuführen, sie gegebenenfalls anpassen oder eine alternative Übung wählen. Der Atem sollte in jeder Haltung ohne Anstrengung lang und fein (dirgha sūkṣma) fließen können. Fließt der Atem angestrengt und stockend, ist die Haltung zu anspruchsvoll und sollte angepasst werden.

Im Mittelpunkt steht der Mensch mit all seinen Belangen auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene. Im ausführen der Übungen steht die Wirbelsäule im Focus. Sie ist unsere tragende Stütze, um die sich alles dreht. Alle Haltungen können individuell angepasst werden, sodass jeder in der Lage ist Yoga zu üben, unabhängig von Alter, Geschlecht und körperlicher Konstitution. Es macht keinen Sinn sich vergleichen zu wollen und es ist auch nicht wichtig, wie der Übende auf der Matte vor oder neben uns die Übungen ausführt. Yoga ist nicht leistungsorientiert. Hier kommt es eher darauf an, bei sich selbst zu bleiben, mehr und mehr nach innen zu lauschen, sich wahrzunehmen, seine Möglichkeiten zu erkennen und zu fördern und die eigenen Grenzen auszuloten.

Yoga bedeutet, etwas zu erreichen, was bisher nicht erreichbar war oder auch sich auf ein Ziel hinbewegen.
Im Yoga Sutra des Patañjali, Kapitel 2.1 (P.Y.S. 2.1), werden drei Qualitäten beschrieben, die unseren Yogaweg bestimmen sollten: tapas (Klärung), svādhyaya (Selbstreflexion) und iśvarapraṇidhāna (die Akzeptanz unserer Grenzen; Hingabe an das Üben, an eine höhere Instanz). Diese drei Aspekte werden kriyāyoga genannt und sollten uns durch jede Yogapraxis begleiten. Es erfordert ein hohes Maß an Achtsamkeit, uns im Üben zu beobachten, offen zu sein für das, was gerade in uns geschieht, um eine positive Veränderung herbeizuführen und diese auch in den Alltag zu integrieren.

Wenn auch der Hype groß ist, es viele verschiedene Stile und noch mehr neue stylische Strömungen gibt, so sollte Yoga nicht auf das Turnen auf der Matte reduziert werden. Vielmehr sollten wir uns bewusst machen, dass Yoga ein jahrtausendealtes ganzheitliches System ist, das der Erforschung des menschlichen Geistes und der Gesunderhaltung des Körpers dient.

Ich wünsche Dir viel Spaß auf dem (Yoga-)Weg zu Dir selbst und beim kennenlernen Deiner Möglichkeiten und der eigenen Grenzen. Lass Dich fachkundig anleiten und sei mitfühlend Dir selbst gegenüber, wenn Du eine Haltung nicht so perfekt ausführen kannst, wie in diversen Medien dargestellt. Lass es Dir einfach gut gehen.

Bildquelle: Deutsches Yoga-Forum